Bildersammlung zu den neutestamentlichen Apokryphen
Die neutestamentlichen Apokryphen - insbesondere die apokryphen Kindheitsgeschichten über Jesus - haben teilweise eine enorme wirkungsgeschichtliche Relevanz entfaltet. Ihr Einfluss lässt sich nicht zuletzt an zahlreichen Bildern erkennen, deren ikonographisches Inventar von apokryphen Erzählungen beeinflusst ist.
Hier finden Sie einige Beispiele:
Giotto, Arena-Kapelle, Padua (1303/05)
Robert Campin, 1425/30, Krippendarstellung
Die Krippendarstellung von Robert Campin enthält zahlreiche Anspielungen auf apokryphe Texte. Am oberen Bildrand erkennt man eine Sonne/Lichtwolke, die sich hinter den Berg zurückzieht - ein Hinweis auf die wunderbare Lichtgeburt, wie sie im Protevangelium des Jakobus erzählt wird (ProtevJak 19). Das Jesuskind, das vor Maria und Josef auf der Erde liegt, strahlt diesen Glanz noch aus. Im Stall erkennt man Ochs und Esel, wie sie im Pseudoevangelium des Matthäus dargestellt werden (PseudMt 14). Hinter Maria und Josef im Fenster des Stalles erkennt man Spielgesellen, die wohl die Söhne Josephs aus erster Ehe abbilden, wie es im Protevangelium des Jakobus berichtet wird (ProtevJak 17,1f).
Am rechten Bildrand sieht man außerdem zwei Frauen - die beiden Hebammen, von denen in ProtevJak 19f die Rede ist. Die obere ist die namentlich genannte Salome, der nach der (ungläubigen) Überprüfung der postnatalen Jungfräulichkeit Mariens die (rechte) Hand verdorrt. Sie weist mit dieser Hand auf das neugeborene Jesuskind. In der Berührung des Kindes wird die Hand schließlich, wie ProtevJak 20,3f berichtet, wieder geheilt.
Die ungläubige Hebamme Salome, Elfenbeinschnitzerei auf dem Bischofsstuhl des Maximian in Ravenna
Die Szene der ungläubigen Hebamme Salome findet sich auch auf dem Bischofsstuhl des Maximian in Ravenna. Gleichzeitig findet man hier auch Ochs und Esel aus PseudoMt 14 sowie den Stern am oberen Bildrand, der nicht nur im kanonischen Matthäusevangelium, sondern auch im Protevangelium des Jakobus (ProtevJak 21) Erwähnung findet.
Giotto, Assisi, 1315/20, Die Legende von der Dattelpalme
Eine besondere Wirksamkeit hat die Legende von der Dattelpalme entfaltet, die sich Pseudoevangelium des Matthäus (PseudMt 20) findet. Auf den ersten Blick zeigt das Bild von Giotto die Flucht nach Ägypten (Maria trägt das neugeborene Kind auf ihrem Arm - ansonsten hätte es auch der Weg nach Bethlehem sein können). Es findet sich das üblich Inventar weihnachtlicher Erzählungen: Esel, Maria, Joseph, die begleitenden Engel. Eigenartig ist aber der "schiefe" Baum in der Bildmitte, der sich zu Maria neigt: Die Dattelpalme aus Pseudo-Matthäus, an deren Früchten Maria ihren Hunger stillt, nachdem sich der Baum auf ein Wort des Jesuskindes hin zur Erde geneigt hat.
Die Legende von der Dattelpalme findet sich nicht nur im Pseudoevangelium des Matthäus, das im 6. Jahrhundert in lateinischer Sprache im westlichen Europa entstanden ist. Auch der Koran kennt diese Erzählung, die in der christlichen Tradition eine ganz eigene Wirkungsgeschichte entfaltet hat. So finden sich Anklänge in einem traditionellen englischen Weihnachtslied, dem "Cherry Tree Carol", dessen Spuren sich mindestens in das 16. Jahrhundert zurückverfolgen lassen. In Ermangelung von Dattelpalmen im britischen Königsreich ist aus der Palme allerdings ein Kirschbaum geworden. Das "Cherry Tree Carol" gehört auch heute noch zu den gerne gesungenen Lieder in der anglikanischen Tradition.
Deckenfresko "Die heilige Dreifaltigkeit", St. Jakobus, Urschalling, 14. Jahrhundert
Ein Sondergruppe innerhalb der apokryphen Evangelienliteratur sind die judenchristlichen Evangelien. Bis heute ist deren Existenz nur durch Zitationen bei den Kirchenvätern belegt. Originalfunde stehen noch aus, sind aber - analog der Auffindung des Thomasevangeliums, das vor seiner Auffindung in Nag Hamadi auch ausschließlich aus Zitationen in patristischen Werken bekannt war - möglich. Bis dahin kann man die judenchristlichen Evangelien lediglich aus Fragementen rekonstruieren, die sich aus den Kirchenväterzitaten ergeben.
Judenchristen bildeten im Laufe der Zeit zunehmend eine Sondergruppe, die sich in einem tiefen Dilemma befand. Da sich die heidenchristliche Linie der Gesetzesfreiheit grundsätzlich durchgesetzt hatte und die Kirche als „Kirche aus den Völkern“ verstanden wurde, wurden die weitergeführte Gesetzesobservanz der Judenchristlich innerkirchlich als häretisch beurteilt. Dabei spielt insbesondere die paulinische Theologie, aber auch andere ntl. Ansätze eine Rolle.
Aber auch innerhalb des Judentums fanden die Judenchristen keine Heimat. Die zunehmende Trennung von Judentum und Christentum brachte es mit sich, dass auch hier die Judenchristen grundsätzlich als Apostaten eingestuft wurden.
Die judenchristliche Evangelien spiegeln nicht nur die besondere Situation wider, in der sich die judenchristlichen Gemeinden befanden. Sie beinhalten auch theologisch manchen Aspekt, der sich aus der Kenntnis der jüdischen und hebräischen Denk- und Sprechweise ergibt. So findet sich etwa im Johanneskommentar des Origines ein Zitat des sog. "Hebräerevangeliums" in dem der Hl. Geist als "Mutter Jesu" vorgestellt wird: "Wenn aber jemand das Hebräerevangelium annimmt – hier sagt der Heiland: Sogleich ergriff mich meine Mutter, der 'Heilige Geist', an einem meiner Haare und trug mich weg auf den großen Berg Tabor." (JohKomm 2,2)
Der Hl. Geist erscheint hier als Geistin - analog der femininen Form des hebräischen Wortes für Geist: ruach.
In dieser Tradition ist auch das Deckenfresko über die Heilige Dreifaltigkeit in der Kirche St. Jakobus in Urschalling (Oberbayern) aus dem 14. Jahrhundert gestaltet: Aus dem Vater und dem Sohn geht der Heilige Geist in Gestalt einer jungen Frau hervor. Der Geist - oder besser: die Geistin - erscheint als weibliches Prinzip.
Martin Schongauer, Der auferstandene Christus befreit Adam und Eva aus der Hölle, um 1450-1491
Die apokryphen Evangelien über Tod und Auferstehung Jesu Christi befassen sich mit dem zentralen Inhalt christlichen Glaubens. Schon Paulus betont in 1 Kor 15,13-19, dass die Tatsächlichkeit des Todes und der Auferstehung Jesu Christi existentiell für den christlichen Glauben ist: "Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, ist auch Christus nicht auferweckt worden. Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos." (1 Kor 15,13f)
Die apokryphen Evangelien schmücken die Leerstellen - ähnlich den apokryphen Kindheitsgeschichten - aus. So werden nicht nur Personenschicksale - etwas des Joseph von Arimathäa - geschildert, auch der Auferstehungvorgang gerät - etwa im Petrusevangelium in den Blick. Besonderes Augenmerk verdient aber auch die Zeit Jesu im Grab. So schildern etwa das Petrusevangelium, vor allem aber das Nikodemusevanglium/die Pilatusakten in drastischen Worten die Höllenfahrt Christi. Jesus Christus geht bis an die tiefsten Tiefen der Unterwelt um die Toten zu befreien. Diese Szene ist vor allem in der Orthodoxie prägend geworden. Sie wird dort nicht nur auf zahlreichen Ikonen dargestellt, sondern spielt auch in der Liturgie des Karsamstages eine wichtige Rolle.
Das Bild von Martin Schongauer ist eine katholische Adaption des Themas. Es zeigt den Auferstandenen, geführt von zwei weißgekleideten Jünglingen. Das Kreuz folgt ihm in Form einer Fahne. Diese Szene wird im Petrusevangelium geschildert. Die Herausführung Adams und Evas, denen weitere Verstorbene folgen und das Zerbrechen der eisernen Riegel an der Pforte der Unterwelt, und der Sieg über den Teufel sind dem Nikodemusevangelium entnommen.
Buchmalerei, Westfalen, um 1360
Die apokrpyhen "Epistula Apostolorum" werden in der Forschung vielfach als "altkatholische" Schrift bezeichnet. Damit ist nicht der Konfessionsbezug gemeint; vielmehr stellen die Epistula Apostolorum einen rechtgläubigen Beitrag in der frühkirchlichen Auseinandersetzung mit den doketistischen, gnostischen und adoptiantistischen Lehren dar.
Vor allem die Auseinandersetzung mit dem Doketismus, der Lehre, der Sohn Gottes habe nur einen Scheinleib angenommen und habe deshalb nicht wirklich am Kreuz gelitten bzw. sei dort gestorben, spiegelt sich in den Epistula Apostolorum wieder. So wird etwa auch die Himmelfahrt Jesu sehr bodenständig geschildert: Nach der Himmelfahrt sind die Fußspuren Christ noch sichtbar. Ein Geist oder Gespenst kann aber keine Spuren hinterlassen. Die Spuren werden zum Beweis der Leibhaftigkeit selbst des Auferstandenen.
Die westfälische Buchmalerei aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts hat diese Szene ins Bild gebracht.
Fresko von Giotto in der Arenakapelle, Padua, um 1304/05
Das Leben der frühen Kirche war höchst dynamisch und von vielen Auseinandersetzungen geprägt. Neben der Abwehr doketistischer, gnostischer und adoptianistischer Lehren spielte auch die Frage nach authentischen Führungsgestalten eine wichtige Rolle. Bereits in den kanonischen Evangelien kommt dabei Maria Magdalena zentrale Bedeutung zu: Sie ist die erste Zeugin der Auferstehung und die erste Person, mit der der Auferstandene spricht. Freilich wird ihr auch in den kanonischen Evangelien von den Aposteln zuerst wenig Glauben geschenkt. Petrus verschafft sich deshalb selbst eine Überblick.
Diese aus biblischer Sicht unscheinbare Schilderung spiegelt einen Konflikt wider, der in der frühen Kirche offenkundig tiefgreifender war, als allgemein vermutet wird. So fordert das Schlusslogion des Thomasevangeliums (Logion 114) dazu auf, Maria (Magdalena) männlich zu machen: "Simon Petrus sprach zu ihnen (den anderen Jüngern): „Maria soll von uns weggehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht wert.“ Jesus sprach: „Siehe, ich werde sie ziehen, auf dass ich sie männlich mache, damit auch sie ein lebendiger, euch gleichender, männlicher Geist werde.“ denn (es gilt): Jede Frau, die sich männlich macht, wird eingehen in das Reich der Himmel."
Anders als in den kanonischen Evangelien, in denen das Vorrecht der Erstzeugenschaft bei Maria Magdalena liegt, beschreibt das apokryphe Petrusevangelium Petrus als Augenzeugen der Auferstehung selbst. Der Makel, dass der Apostelfürst nicht als Erster dem Auferstandenen begegnet, wird so wett gemacht.
Fra Angelico, Kreuzabnahme, um 1440
Anders betont dagegen das apokryphe Philippusevangelium die Bedeutung der Maria Magdalena, wenn es berichtet: "Die Weisheit, die die Unfruchtbare genannt wird, sie sit die Mutter der Engel und die Gefährtin des Erlösers. Der Erlöser liebte Maria Magdalena mehr als alle Jünger, und er küsste sie oftmals auf ihen Mund. Die übrigen Jünger ... sie sagten zu ihm: 'Weswegen liebst du sie mehr als uns alle?' Der Erlöser antwortete und sprach zu ihnen (...): 'Weshalb liebe ich euch nicht so wie sie?'" (EvPhil 55)
Noch deutlicher wird das Evangelium der Maria (Magdalena), in dem der Maria Magdalena sogar persönliches Vorzugswissen über den Erlöser attestiert wird. Er hat ihr Dinge geoffenbart, die die Apostel nicht wissen: "Andreas aber entgegnete und sprach zu den Brüdern: 'Sagt, was meint ihr über die Dinge, die sie gesagt hat? Ich jedenfalls glaube nicht, dass der Erlöser dies gesagt hat. Denn wahrhaftig, diese Lehren sind andere Gedanken.' Petrus antwortete und sprach über die so gelagerten Dinge und befragte sie (die Brüder) über den Erlöser: 'Hat er etwa mit einer Frau ohne unser Wissen und nicht öffentlich geredet? Sollen etwa wir selbst umkehren und alle auf sie hören? Hat er sie uns gegenüber bevorzugt?' Da weinte Maria und sprach zu Petrus: 'Mein Bruder Petrus, was denkt du da? Denkst du, dass ich mir dies selbst in meinem Herzen ausgedacht habe oder dass ich über den Erlöster lüge?' Levi entgegnet und sprach zu Petrus: 'Petrus, du warst von jeher jähzornig. Nun sehe ich, dass du dich gegen die Frau ereiferst wie die Widersacher. Wenn aber der Erlöser sie würdig gemacht hat, wer bist denn du, sie zu verwerfen? Gewiss kennt der Erlöser sie ganz genau. Deshalb hat er sie mehr als uns geliebt. Vielmehr sollten wir uns schämen, den vollkommenen Menschen anziehen und ihn uns erwerben, wie er uns befohlen hat, und das Evangelium verkündigen, ohne dass wir eine andere Bestimmung oder ein anderes Gesetz erlassen außer dem, was der Erlöser sagte.'“ (EvMar p.17.15-22;18.1-20)
Das geoffenbarte Sonderwissen der Maria Madalena besteht dann in der Schilderung des Seelenaufstieges, wobei nicht klar ist, wessen Seele gemeint ist (Jesus? Maria? Seele allgemein?). Diese Darstellung weist allerdings deutlich gnostische Züge auf.
Interessant ist die Beobachtung von Fraktionen, wenn es um die Zuordnung zu Petrus und Maria Magdalena geht. Mit Petrus wird häufig Andreas genannt, mit Maria Magdalena Levi (Matthäus).
Das Evangelium der Maria (Magdalena) gibt interessante Einblicke in die frühen Gemeindestrukturen sowie in die Konflikte um die Mitwirkung von Frauen in verantwortlichen Rollen. EvMar bezieht dabei eindeutig Position, indem sie Maria Magdalena ge-wissermaßen als Stellvertreterin des auferstandenen Herrn darstellt und so in di-rekte Opposition zu Petrus bringt. EvMar erweist sich damit – analog der johanneischen Gemeinde und dem dort entstandenen Corpus Johanneum – als Zeugnis einer Gemeinschaft, die sich auf Maria Magdalena berufen hat.
Der Titel „Evangelium der Maria“ weckt Erwartungen geheime Einblicke in das „private“ Leben des Jesus von Nazareth zu finden, das von der Kirche vermeintlich verschwiegen wird. Entsprechende Gerüchte werden postmodern zwar medienwirksam in Szene gesetzt (z.B. in den Werken Dan Browns), reduzieren die Figur der Maria Magdalena aber doch nur auf die Rolle der Geliebten. Dass sie – auch und gerade für die frühe Kirche – mehr war, zeigt allein die Rolle, die ihr in EvPhil, aber auch in EvMar zugewiesen wird.
Fresko aus der Paulusgrott in Ephesus, vermutlich 4./5. Jahrhundert n. Chr., Paulus zwischen Thekla und deren Mutter Theoklia
Paulus, Mosaik aus dem 5. Jahrhundert, Oratorium St. Andrea im erzbischöflichen Museum in Ravenna
Paulus und Petrus (Fresko)
Benozzo Gozzoli (1420-97), Der heilige Petrus und Simon Magus
Ingesamt zeigen die Bilder, welche Wirkungsgeschichte die apokryphen Texte entwickelt haben. Sie waren offenkundig keineswegs so verborgen und geheim oder wurden von der Kirche zurückgehalten, wie manche Medien sensationsheischend heutzutage unterstellen. Vielmehr spiegeln sie Frömmigkeitsbewegung aber auch theologische Auseinandersetzungen wieder, die ihre Entstehung offenkundig so weit überdauert haben, dass sie nicht nur die künstlerische Darstellung, sondern auch die Kirchenmusik (etwa im Cherry-Tree-Carol) sowie manchen theologischen Diskurs der Neuzeit (wenn man etwa an den Zusammenhang der Mariendogmen mit dem Protevangelium des Jakobus bedenkt) beeinflusst haben.